circular art

von Anne-Kathrin Reif

Jeder kennt sie, jeder hat sie schon in der Hand gehabt. Hat im Supermarkt wie selbstverständlich einen Beutel Zwiebeln in den Einkaufswagen gelegt, hat zuhause angekommen Zitronen aus ihrem labberigen gelben Netz befreit oder Kartoffeln aus hartem, ockerfarbenem Plastikgewebe geangelt. Vielleicht haben wir den Inhalt umgefüllt in Schalen, Schüsseln, Körbe oder andere Behältnisse. Auf jeden Fall aber hat das Verpackungsnetz mehr oder weniger schnell seine Aufgabe, lose Lebensmittel zu Einheiten zusammenzufassen und leicht transportierbar zu machen, erfüllt, und wird von uns in den Müll geworfen, wo es Teil der jährlich in Deutschland anfallenden rund 19 Millionen Tonnen Verpackungsmüll wird (Stand 2019 laut Umweltbundesamt). Es hat seine Schuldigkeit getan und wird jenseits seiner Zweckdienlichkeit von uns im Allgemeinen nicht weiter beachtet.

 

Andrea Raak ging und geht es ganz anders damit. Eine Künstlerin wie Andrea Raak, die sich nicht auf ein Genre wie Malerei oder Zeichnung oder auf ein bestimmtes Material festgelegt hat, die mit den Händen arbeitet und für die sinnliche Erfahrungen Grundlage ihrer Kunst sind, die sieht und fühlt etwas anderes als der Normalverbraucher, wenn sie ein Kartoffelnetz in den Einkaufswagen legt oder beim Kochen zum Zwiebelnetz greift: Sie sieht Farben und fühlt eine bestimmte Beschaffenheit, und was durch ihre Hände geht, wird Material für Kunst.

 

Für das Vorgehen, alltägliche Verbrauchsmaterialien oder abgenutzte Dinge, die in der Regel weggeworfen werden, als Ausgangsmaterial für Kunst zu verwenden, haben sich inzwischen eigene Begrifflichkeiten gebildet – wie „Recyclingkunst“ oder „zero waste art“. Gibt man die Begriffe im Internet ein, spuckt die Suchmaschine seitenlange Listen aus. Künstlerinnen und Künstler, die so arbeiten, sind international zahlreich. Sehr oft allerdings ist diese Art Kunst sehr vordergründig und plakativ mit einem unübersehbaren ökologischen Appell verbunden – will etwa auf die Verschmutzung der Ozeane mit Plastikmüll und die verheerenden Folgen für die Meeresbewohner aufmerksam machen, prangert das Verhalten der Konsumgesellschaft als solches an oder Ähnliches mehr.

 

Zweifellos ist das große Thema der Nachhaltigkeit auch ein Aspekt bei Andrea Raaks Arbeiten mit Verpackungsnetzen – so viel sagt schon der Titel der Ausstellung „Circular Art“ und die ganz bewusst gewählte Nähe des Ausstellungsraumes zum Ort ihrer ursprünglichen Nutzung gegenüber einem großen Supermarkt in einer Wuppertaler Einkaufspassage. Doch gibt es einen feinen, entscheidenden Unterschied zu vielem, was man gemeinhin dem trendigen Genre der „Recyclingkunst“ zurechnet: Am Beginn ihrer Serie von „Netz“-Arbeiten steht nicht ein öko-aktivistischer Impuls, sondern vielmehr ein ästhetischer – und das sieht man diesen Arbeiten an.

 

Wer diesen Arbeiten gegenüber steht, der wird nicht als allererstes von einem gut gemeinten ökologischen Appell angesprungen, sondern sieht leuchtende Farben und wird angezogen von der Vielfalt der Formen und der unterschiedlichen haptischen Anmutung des Materials. Form, Farbe und Stofflichkeit – das sind die Elemente, die unsere sichtbare Welt ausmachen. Und das sind seit je her auch die Elemente, mit denen sich Kunst auseinandersetzt und aus denen sie selbst besteht. Die Auffassungen darüber, was es wert ist, ins Bild gesetzt zu werden, und welche Materialien hochwertig genug sind, um zur Schaffung von Kunst zu taugen, haben sich im Laufe der Kunstgeschichte stark gewandelt. Nicht erst seit Andy Warhols Gemälden von Suppendosen und Waschmittelkartons ist das Profane gleichberechtigter Gegenstand von Kunst, und die Strömung der „arte povera“ hat seit den späten 1960er Jahren die Verwendung von „armen“ Materialien in der Kunst salonfähig gemacht.

An diese künstlerische Tradition knüpft Andrea Raak mit ihren Objekten an. Auch wenn sie diese Arbeiten im November 2022 zum ersten Mal ausstellt: Ihr erster Impuls zur Arbeit mit Verpackungsnetzen liegt so weit zurück, dass „Recycling-kunst“ noch gar nicht als Thema im Mainstream angekommen war. Sie arbeitete hauptsächlich skulptural, häufig in großem Format und mit Beton als Material (was sie auch heute noch tut), als sie vor fünfzehn Jahren anfing, Obst- und Gemüsenetze zu sammeln. Als Künstlerin, die gewohnt ist, mit den Händen zu arbeiten, zu formen, fühlte sie sich vor allem von der unterschiedlichen Haptik der Netze angesprochen. Während die Netze im alltäglichen Verwendungszusammenhang als Müll zurückbleiben, sieht die Künstlerin darin vor allem eines: formbares Material.

 

Der erste Impuls zur Gestaltung mit diesem Material verband sich für sie sogleich mit der Vorstellung einer konkreten Figur. Um die umzusetzen, musste aber erstmal gesammelt werden, denn es brauchte viele Netze dafür. Beim Sammeln entdeckte die Künstlerin erst die ganze Vielfalt des Materials: Es kann weich sein, labberig, fragil, fest, hart, widerspenstig, formbar oder gänzlich gestaltlos, matt oder glänzend, und es gibt beileibe nicht nur die gelben Zitronennetze, grünen Gemüsenetze und braunen Kartoffel- oder Zwiebelnetze, die vermutlich jeder sofort vor Augen hat. In großen Plastikboxen nach Farben sortiert hat Andrea Raaks über Jahre zusammengetragene Kollektion von Netzen eine ähnliche Anmutung wie in anderen Künstlerateliers in Gläsern aufgereihte Pigmentfarben. Man staunt über die Vielfalt an Farben und Farbtönen, die man beim alltäglichen Einkauf im Supermarkt so noch nie wahrgenommen hat – staunt über leuchtendes Türkis, Pink und Blau oder über die Menge unterschiedlicher Rot- und Orangetöne.

 

Auch die Sorgfalt, mit der die Künstlerin sich dem Ausgangsmaterial widmet, unterscheidet sie von der puren „Recyclingkunst“. Denn sie verwandelt die Netze in der Regel nicht im mitgebrachten Zustand, der noch ihre ursprüngliche Zweckdienlichkeit erkennen ließe, in Kunstobjekte, sondern befreit sie gerade davon: Vorsichtig müssen zunächst Plastik-Banderolen herausgetrennt werden, Etiketten abgeschnitten und Metallösen aufgebogen werden, von denen die Netze oftmals zusammengehalten werden (es sei denn, sie sollen ausdrücklich als sichtbares gestalterisches Element in einem Objekt dienen). Gelegentlich müssen die Netze auch vorsichtig gebügelt werden, damit sie ihre Form vollständig verlieren, bevor sie eine neue Gestalt bekommen können. Was übrig bleibt – die Etiketten, Ösen und Banderolen – sammelt die Künstlerin wiederum, damit auch diese Dinge eines Tages ein zweites Leben in der Kunst bekommen.

 

Wie aber findet das zerlegte, nach Farben sortierte und von seiner Funktionalität befreite Material zu neuer Gestalt? Die Frage zielt auf den Prozess der künstlerischen Kreation, der immer auch einen Rest Geheimnis bewahrt – meistens sogar für den Künstler selbst. Im Fall von Andrea Raaks Arbeit mit Verpackungsnetzen ist der Prozess ausgesprochen offen. Vorzeichnungen wie bei ihren großen Skulpturen fertigt sie nicht an. Eher selten liegt schon zu Beginn des Gestaltungsprozess eine leitenden Formvorstellung vor, für deren Umsetzung sie dann das passende Material sucht. Häufiger aber lässt sich die Künstlerin selbst davon überraschen, was mit dem jeweiligen Material möglich ist. So entstehen Objekte von großer gestalterischer Vielfalt: gänzlich abstrakte, aus Grundformen wie Zylinder, Kegel oder Kugel entwickelte Formen, die auf dünnen Metallstäben oder Ästchen aufgespießt und auf Sockel montiert sind, ebenso wie Gegenständliches – etwa ein Wandobjekt in Gestalt eines fragilen, als Kleidungsstück untauglichen Jäckchens aus Kartoffelnetzen. Manche Objekte kommen schwebend leicht und flatterhaft daher, andere in kompakter Bestimmtheit. Und schließlich gibt es jene Objekte, die absichtslos beim Betrachter verschiedenste Assoziationen aus der naturhaften Welt hervorrufen – die vielleicht an einen überdimensionalen Schachtelhalm erinnern oder an Meereswesen wie Korallen, Seeanemonen oder Tintenfische mit ihren Tentakeln. Und das, obwohl das Netzmaterial selbst jedweder naturhaften Anmutung kaum ferner sein könnte – und, sofern es als Abfall in der Natur landet, zerstörend auf sie einwirkt. Die Objekte, die nicht auf einem Metallspieß als Träger aufgebracht sind, sondern auf dünne Ästchen oder stabile getrocknete Pflanzenstängel, tragen diesen Widerspruch in sich und machen auf subtile Weise darauf aufmerksam.

 

Ganz ohne plakativen Appell und ohne dass sich die Objekte von Andrea Raak darauf reduzieren ließen, ist ihnen der Aspekt der Nachhaltigkeit dennoch immanent. Dazu gehört auch, dass das neue Leben der Verpackungsnetze als Kunstobjekt ein endliches ist. Die Haltung des Künstlers, der sich in Objekten mit Ewigkeitsanspruch zu verwirklichen sucht, ist Andrea Raak fremd. Sofern ein Netzobjekt nicht einen Liebhaber findet, der es kauft und ihm damit ein längeres Leben schenkt, werden die meisten Kunstobjekte nach Ende der Ausstellung „Circular Art“ wieder zerlegt und in den Kreislauf zurückgegeben. Das kann ein industrieller Recyclingprozess sein oder wiederum ein künstlerischer – in der eigenen Arbeit, in der kunstpädagogischen Arbeit mit Kindern oder indem andere Kreative sich das Material zu eigen machen und wiederum in etwas ganz anderes verwandeln.

 

Bleiben wird von den Objekten nur ihre fotografische Dokumentation und ihre Wirkung auf diejenigen, die ihnen in ihrer kurzen Lebensdauer begegnet sind. Denn diese Kunstwerke tun das, was Kunst im besten Fall immer tut: Sie verändern unseren Blick auf die Dinge. Wohl kaum einer, der den Netz-Objekten von Andrea Raak begegnet ist, wird fortan nicht an sie denken, wenn er Zwiebeln, Zitronen, Kartoffeln, Knoblauch oder Rosenkohl aus ihren Netzen angelt.

 

Sein Blick wird geschärft sein für die Vielfalt ihrer Farbtöne, er wird wahrnehmen, wie sich das anfühlt, was er da gerade in den Händen hält und sich vielleicht sogar schwerer damit tun als zuvor, die Netze einfach wegzuwerfen. Und deshalb vielleicht sogar darauf achten, in Zukunft weniger davon zu kaufen. Dann hätten die Objekte von Andrea Raak noch einen sinnvollen Zweck erfüllt – neben ihrer Existenz als Kunst, die keiner weiteren Rechtfertigung bedarf.